Reinlesen gefällig? Aber gerne doch!

Reisen

Vielleicht habe ich einfach zu viel Kerouac, Thompson oder Timmerberg gelesen. Oder es liegt daran, dass ich als Verlegerin viel mit Globetrottern und Nomaden zusammengearbeitet habe: Sei es Howard Marks alias Mr. Nice, der auch nach seiner Zeit als Drogendealer unaufhörlich um den Globus bottete oder Werner Pieper, den seine anthropologische Neugier früh raus in die Welt ziehen ließ oder Hadayatullah Hübsch, der in der Wüste Marokkos seinen Frieden nach Jahren der Selbstzerstörung fand oder Jürgen Ploog, der, wenn er nicht gerade schrieb, 33 Jahre als Linienpilot arbeitete oder, oder, oder. Sie alle waren oder sind getrieben von diesem heiligen Feuer des Unterwegsseins, und ich könnte nicht mehr genau sagen, wann es auf mich übersprang. 

 

Musik

Meine zweite große Liebe neben dem Reisen ist die Musik. Und auch sie hat sich irgendwann in mein Schreiben geschlichen, ohne dass es eine bewusste Entscheidung gewesen wäre.  Vielleicht als Ausgleich zum Scheiben, denn: Musik ist ein bisschen wie »Reisen ohne weg zu müssen«, um mal einen Buchtitel von Florian Günther zu bemühen. Wobei das nur bedingt stimmt, weil mich auch die Musik oft auf die Straße getrieben hat.
Im Idealfall  bringen Konzerte zwei wundervolle Sachen zusammen: Das Reisen und die Musik. 

Leben

Die dritte Schublade, in die sich Texte von mir ablegen lassen würden, ließe sich gut mit »Sonstiges« etikettieren. Weil das aber arg lieblos klingt, bevorzuge ich das Synonym  »Leben«. Schön dehnbar, angemessen diffus, keine Erwartungshaltungen auslösend und latent positiv. Kann alles, muss nichts. Meint aber in den meisten Fällen eine Art Alltags-Archäologie oder teilnehmende Beobachtung in meinem nächsten Umfeld. Oft ist es auch einfach nur ein lautes Nachdenken über das, was um mich herum so passiert.



Auzüge aus meinem Buch »Im Land der kaputten Uhren – mein marokkanischer Roadtrip« gibt's hier zu lesen und zu hören: CONBOOK Verlag


Mein Insomnia-Text »Froschlaich im Lavendel unterm Küchentisch« ganz wunderbar umgesetzt von Jan Boris Rätz.

 


 

REISEN
Chefchaouen / Rabat / Essaouira

Der alte Mann und die Wüste

 

Es ist eigenartig mit unserer Erinnerung. Es gibt Menschen, die uns eine ganze Weile auf unserem Lebensweg begleiten, ohne auch nur die geringste Spur in unserer Erinnerung zu hinterlassen. Und andere, deren Blick wir nur ganz zufällig im Vorübergehen streifen, brennen sich für immer in sie ein. So wie der alte Mann im Nachtbus nach Essaouira, der mir in manchen Momenten ganz unvermittelt in den Sinn kommt.

 

Ich hing schon seit vier Tagen in der blauen Hölle von Chefchaouen fest und musste dringend hier weg. Dieses Blau zog mich langsam aber sicher in einen Wahnsinn hinein, den ich nichtmehr unter Kontrolle hatte. Es rief meinen Verstand zu sich – und mein Verstand folgte mit dem sicheren Fußtritt eines Schlafwandlers auf einem Giebel. Dass das nicht mehr lange gut gehen würde, stand außer Frage. Es hätte mich auch nicht sonderlich verwundert, hätte mir jemand gesagt, dass ich mich längst nicht mehr diesseits, sondern bereits jenseits des Blaus befinde. Genau wie all die Einheimischen, die wahrscheinlich bereits vor Jahrhunderten von ihm verschluckt worden waren und nun ihr Dasein auf dem Grund des Zeitmeeres fristeten, um dort Ewigkeit für Ewigkeit mit seelenlosen, opiumleeren Augen als Wächter des Blaus zu dienen. Ein paradoxes System sich selbst erhaltender Zerstörung. Ob das alles ein bisschen wahnsinnig klingt? Nun, ich sagte ja bereits … ich musste dringend in ein anderes Blau verschwinden. Oder noch besser: In gar keins.

 

Da ich außerdem langsam anfing, von innen Moos anzusetzen, entschied ich mich spontan, nach Essaouira weiterzufahren. Das schien mir zum einen weit genug weg von Chefchaouen, zum anderen weit genug weg von der Kälte und dem Regen des Nordens. Wird schon seine Gründe gehabt haben, warum Frank Zappa, Jefferson Airplane, Living Theatre oder die Rolling Stones alle in ssaouira waren und eben nicht in Chaouen. Ich bin zwar durchaus geneigt, all jenen ebenfalls einen latenten Wahnsinn zu attestieren, nur dass der vermutlich nicht durch Marokko ausgelöst wurde. Der berühmteste Wahnsinnige der Stadt aber, mit dem man sich bis heute schmückt, war Jimi Hendrix. Legenden und Geschichten, die sich um seinen Aufenthalt ranken, gibt es so viele wie Plastiktüten im Meer. Meine liebste davon ist aber die, dass Hendrix in einem rauschhaften Anflug von Eingebung die Wände seines Zimmers mit Songtext-Fragmenten überzogen haben soll. Das alleine wäre noch keine Geschichte wert. Erst Hendrix resolute Zimmerwirtin, die ihn empört dazu verdonnerte, den Raum wieder in seinen Ausgangszustand zu versetzen, macht es zu einer. Denn: Marokkanischer Dschinn sticht amerikanischen Gitarrengott – und so überpinselte Hendrix artig sein Gekritzel. Ob die Anekdote stimmt oder nicht, spielt eigentlich wie bei jeder guten Geschichte keine Rolle.  Apropos Hendrix und gute Geschichten: Unlängst erzählte mir jemand, dass noch nie auch nur ein einziger Musiker an seinem eigenen Erbrochenen verschieden sei. Hendrix zum Beispiel sei an einem schnöden Käsebrötchen erstickt. Sein Manager entschied aber geistesgegenwärtig, dass ein solcher Abgang einem Ausnahmetalent wie Hendrix nicht würdig und der Mythenbildung nicht zuträglich sei und schüttelte so kurzerhand die Story vom Exitus durch Rock’n’Roll aus dem Ärmel. Guter Mann. Aber ich schweife schon wieder ab.

 

Während ich also über den Marktplatz lief und darüber nachzudenken versuchte, wie ich am besten von hier weg käme, klingelte mein Handy. Dran war Yassin. So schnell kann’s gehen. Er wollte wissen, wo ich sei und als ich sagte, dass ich mittlerweile in Chefchaouen wäre, setzte er nach: »Und wo da?« Mir schien zwar etwas schleierhaft, was er mit dieser Information anfangen wollte, sagte schließlich aber: »In der Nähe des großen Baums.« (Wer schon mal in Chaouen war wird bezeugen können, dass das ernsthaft eine äußerst präzise Ortsangabe ist.) »Und du?«, fragte ich höflichkeitshalber zurück. »Hinter dir«, bekam ich als Antwort zu hören. Immer diese marokkanischen Sinnsprüche! Können die nicht einfach mal ganz normal auf eine Frage antworten? »Gut in Rabat angekommen?«, beharrte ich auf meiner Frage. »Dreh dich um!«, beharrte Yassin auf seiner Antwort. War das jetzt so gesamtlebensweltlich gemeint oder doch eher religiös oder am Ende sogar … ich erschrak fast zu Tode, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte. Entsetzt drehte ich mich um und schaute in das lachende Gesicht von … Yassin. Ja toll. Vor kaum einer Woche hatten wir uns tränenreich verabschiedet und uns geschworen, dass wir uns someday, somewhere down the road wiedersehen. Und jetzt stand er einfach so hinter mir. So hatten wir nicht gewettet. Er hatte noch zwei Freunde im Schlepptau und plötzlich war das Blau gar nicht mehr so wahnsinnig schlimm. Trotzdem nahm ich das Angebot dankend an, am Abend mit dem Auto mit nach Rabat zu kommen, um dort noch einen letzten Bus Richtung Essaouira zu bekommen. Aber wie das immer so ist mit marokkanischen Autofahrten und Zeiteinschätzungen: Ankunftszeit ist wenn man da ist. Und da waren wir, als der letzte Bus längst abgefahren war.

 

Also bekam ich ein Bett angeboten und den Vorschlag unterbreitet, dass wir morgen alle zusammen Richtung Süden fahren würden. Deal. Nach all den Wochen auf der Straße genoss ich das große, weiche Bett und den Umstand, mir das Zimmer nicht mit mindestens sieben weiteren teilen zu müssen. Auch das ausgedehnte Frühstück ließ ich gerne über mich ergehen. Und dass ständig Verwandte vorbeikamen, die sich alle mal die Deutsche angucken wollten, hatte durchaus Unterhaltungswert, zumal meine Aufgabe in nichts weiter bestand, als dekorativ auf der ausladenden Sofalandschaft zu lümmeln, mir unaufhörlich Tee nachschenken und Gebäck auftischen zu lassen. Gegen Nachmittag aber spürte ich, wie mich etwas zurück auf die Straße zog. Was war mit unserem Deal? Wollten wir nicht weiter? Immerhin wurde mir auf mein Drängen hin mal die Stadt gezeigt, die mich allerdings – Hauptstadt hin oder her – nicht sonderlich beeindruckte. Gegen 21 Uhr fragte ich zaghaft, ob es nicht langsam an der Zeit sei, sich in einen Bus zu setzen. Yassin merkte an, dass es heute vielleicht etwas spät dafür wäre. Also bekam ich ein Bett angeboten und den Vorschlag unterbreitet, dass wir morgen alle zusammen Richtung Süden fahren würden. Moment mal – den Text kannte ich doch bereits. Das Festhängen in Zeitschleifen stellt eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar – zumal in Marokko. Zum Glück kam Yassin von ganz alleine darauf, dass meine Gesichtsperformance bodenlose Enttäuschung zum Ausdruck zu bringen versuchte und so besserte er nach: »Okay, wir essen jetzt noch was, dann fahr ich dich zum Nachtbus und wir kommen morgen nach, ja?« Deal. Das klang doch schon viel besser.

 

Natürlich hätten wir um ein Haar den letzten Bus verpasst. Und natürlich musste ich mal wieder reinspringen, als sich der Bus bereits langsam in Bewegung setzte. Aber das kannte ich ja bereits.

 

Dann war ich wieder auf der Straße.

 

Voll war der Bus nicht und so ärgerte ich mich ein wenig, dass sich im letzten Moment noch ein alter Mann neben mich setzte. Aus dem Fenster in die Nacht starren, gelegentlich schlafen, Gedanken nachhängen und irgendwie versuchen bei Sonnenaufgang den Busbahnhof Essaouira nicht zu verpennen, das hätte ich auch ganz prima ohne einen Sitznachbarn hinbekommen. Zumal ein Sitznachbar in Marokko ja automatisch einen Gesprächspartner bedeutet. Einen intensiven Gesprächspartner. So schön das manchmal ist, in Marokko nie lange alleine zu sein: Manchmal, gerade auf längeren Reisen, fehlt mir genau das: Alleine zu sein. Da bin ich offenkundig doch arg deutsch.

 

Nachdem der alte Mann sich selbst in dem Sitz und seinen blauen Stoffbeutel auf seinem Schoß verstaut hatte, eröffnete er das Gespräch mit einer Offensichtlichkeit, indem er mir offenbarte, was ich längst gesehen hatte, nämlich dass er blind war. Sowas mag ich ja ganz besonders. Was soll man denn darauf antworten? »Aha.«, »Oh, jetzt wo Sie’s sagen!«, »Oh nein!« oder am Ende »Warum? Erzählen Sie doch mal. Wir haben ja eine ganze Nacht lang Zeit.« Zu allem Überfluss sprach er natürlich Französisch, was ich, wenn ich mich konzentriere, streckenweise ganz gut verstehe, aber nur bedingt zu sprechen in der Lage bin. Da er zwar blind, offenkundig aber recht lebensweise war, begriff er schnell und intuitiv, dass es sachdienlich war, seine ausufernden Monologe mit phantasievollen Gesten zu untermalen, wenn er in den kommenden Stunden Wert auf einen Zuhörer legte, der ihm auch folgen konnte. Allerdings übertrieb er es ein wenig und redete mit mir wie mit einer Schwachsinnigen, fragte permanent, ob ich dieses oder jenes verstanden hätte, redete sehr langsam, wiederholte sich permanent und malte mit seinem rechten Zeigefinger Erklärbilder an die Rückenlehne des Vordersitzes. Los ging’s mit der Frage, wo ich hinwolle. Und die Antwort, die ihn sehr zu freuen schien, zog eine ausgedehnte Lobhudelei auf Essaouira nach sich. Die Altstadt, der Strand und vor allem der Fisch. Er steigerte sich dermaßen rein, dass er mir in der kommenden halben Stunde alle Fischarten aufzählte, die er kannte. Was heißt aufzählte? Er beschrieb mir Größe und Aussehen und natürlich den Geschmack. »Comprendez-vouz?« »Oui, oui«, nickte ich sein zoologisches Impulsreferat durch, das mir leicht autistisch vorkam. Nichts gegen Autisten. Aber vielleicht nicht gerade nachts um eins fremdsprachig in meinem Tanzbereich.

 

Unser Bus schob sich derweil klappernd durch die marokkanische Nacht, die alles verschluckt zu haben schien.

 

Nach einer kurzen Pause wechselte er das Thema. Wenn ich ihn richtig verstand, erklärte er mir den Grund seiner Reise. Nach wenigen Sätzen war ich hellwach. Ich liebe Geschichten. Ich liebe interessante Lebenswege. Aber für die Lebensgeschichte von einem, der fast sein ganzes Leben als stolzer Soldat in der Westsahara gedient hat, bin ich eindeutig der falsche Adressat. Schon alleine deshalb, weil es mir unmöglich ist, meine Haltung zu diesem Stolz adäquat und wasserdicht auf Französisch darzulegen. Aber hat man eigentlich das Recht, wildfremden, alten, blinden Männern seine Verachtung gegenüber ihrem Lebensstolz darzulegen? Oder hat man die sogar die Verpflichtung dazu? Ich weiß es nicht. Umständlich suchten seine Finger nach etwas in der Brusttasche seiner Jacke. Was er zutage förderte, sah aus wie ein von Grundschülern selbst gebastelter Detektivausweis.  »Comprendez-vouz?« Bei dem zerflederten Dokument, das sein Passbild zierte, handelte es sich angeblich um seinen Vateranenausweis. Er erzählte von der Wüste, davon, tage- und nächtelang mit dem Gewehr im Anschlag im Sand zu liegen, erzählte von der Stille einsamer Nächte unter dem Wüstenhimmel, von dem Triumph überlebt zu haben und der Leere, die sich in seinem Leben breit machte, seit man ihn einfach in Rente geschickt und damit seines Lebenssinns beraubt hatte. Soldat hin oder her, irgendwie rührte mich die Geschichte. Und jetzt müsse er ein letztes Mal in die Wüste. Er würde an der nächsten Haltestelle aussteigen. Dort würde sein Sohn ihn abholen. Bei Sonnenaufgang wären sie dann in der Sahara. Mein Blick fiel auf seine winzige blaue Tasche. Was da wohl drin war? Da trat jemand seine letzte Reise in die Wüste mit wirklich sehr leichtem Gepäck an.

 

Nach einer längeren Pause, die wir beide offenkundig brauchten, kramte er wieder in seinen Taschen. In einer Hand hielt er einen 20 Dirham-Schein, in der anderen 20 Dirham in Münzen. Er wolle mir etwas mit auf den Weg geben. Ich solle gut überlegen, bevor ich antworte. »Comprendez-vouz?« Ja, ich hatte verstanden. Na gut, was mehr wert sei, solle ich ihm sagen: Der Schein oder die Münzen. Ich ließ mir Zeit, aber mir fiel beim besten Willen nur eine Antwort ein: Die Münzen. Enttäuscht schüttelte er den Kopf, die beiden Hände immer noch vor sich geöffnet. Was mehr wert sei, habe er gefragt, als hätte ich die Frage nicht verstanden. Ich zeigte mit dem Finger auf die Geldstücke. Wieder schüttelte er den Kopf. Ich zuckte schließlich die Schultern und bat um Auflösung. Er würde mir das Rätsel mit auf den Lebensweg geben, sagte er. Ich solle es nicht vergessen. Irgendwann würde ich darauf kommen.

 

Derweil waren wir in ein kleines Kaff eingefahren. Draußen war es noch immer stockdunkel. Der Alte erhob sich mit seiner blauen Tasche und tastete sich an den Kopflehnen der Sitze Richtung Bustür. »Gute Reise!«, murmelte ich ihm hinterher, um die um uns herum Schlafenden nicht zu wecken. »Das wird es«, entgegnete er, ohne sich umzudrehen, »das wird es ganz sicher.«

 


 

MUSIK

Vorwort zu »DAS IST DAF «, erschienen 2017 bei Schwarzkopf und Schwarzkopf

Es war der Sommer 2015, als Robert Görl mir bei einer Portion Bio-Pommes davon erzählte, dass er gerade an seiner Autobiographie schrieb. Eins kam zum anderen und so dauerte es nicht lange, bis die Idee im Raum stand, man könne ja auch mal eine Band-Biographie über DAF schreiben, was ich in der Euphorie des Moments für eine ziemlich gute Idee hielt. Noch während dieses Essens schrieb ich eine SMS an Oliver Schwarzkopf, einen befreundeten Verleger, um ihm diese Idee zu unterbreiten. Es dauerte kaum fünf Minuten, bis dieser sein verbindliches Interesse zusicherte. Aus Gründen, die mir zwischenzeitlich äußerst rätselhaft erschienen, waren auch Gabi Delgado und Rudi Esch schnell von dieser Idee überzeugt. Mit Rudi hatte ich bereits zwei Jahre zuvor an dem im Suhrkamp Verlag erschienen Buch ELECTRI_CITY gearbeitet, ein Buch über frühe elektronische Musik aus Düsseldorf. Daher kannte ich auch Robert. Und darum schien mir diese Zusammenarbeit beinahe logisch.

 

Wenige Wochen später fanden wir fünf sowie Ulrike Bauer, die Pressechefin des Schwarzkopfverlags und Frau des Verlegers, uns zu einem Abendessen im Hause Schwarzkopf ein, um den vertraglichen Rahmen abzustecken. Bei Sekt, Grappa und Häagen Dazs-Eis waren wir uns schnell einig. Bis hierhin war alles ziemlich einfach gewesen.   

 

In den kommenden Monaten führten wir etliche Gespräche mit Freunden und Wegbegleitern von DAF und sammelten allerlei Material zusammen: Fotos, Eintrittskarten, Zeitungsartikel, Tourpläne, Briefwechsel, Verträge – eben Memorabilia aller Art. Jedes Fundstück war ein weiterer bunter Glassplitter für unser immer detailreicher werdendes DAF-Kaleidoskop. Rudi hob dabei wahre Schätze für unser Buch. Dennoch wurde mir schnell bewusst, was es bedeutete, dass es in den späten Siebzigern, frühen Achtzigern weder Smartphones noch inflationär genutztes Internet gab: Die Spuren, die DAF hinterlassen hatte, waren selten digitaler Natur, viele davon existierten ausschließlich in den Köpfen und Herzen Dabeigewesener oder auf deren Dachböden. Bei dem überschaubaren Material, das sich im Internet fand, fiel mir, je tiefer ich in die Materie eintauchte, auf, wie viele „alternative Fakten“ dort über DAF kursierten. So las ich in einem Artikel aus jenen Tagen, dass Gabi Kurt Dahlke am Synthesizer ablöste; in einem anderen, dass DAF sich 1981 fünfköpfig ins Grün In zurückzog; über den unverkennbaren Sound des Korg MS-20 und SQ-10, auf denen die legendären Sequenzen der Alles Ist Gut entstanden seien und anderes Haarsträubendes. Erschwerend hinzu kommt, dass ich selbst 1982, also in dem Jahr, in dem DAF sich zum ersten Mal auflöste, geboren bin. Natürlich konnte ich viel lesen über das Konzert in der Philipshalle oder den Ratinger Hof, konnte mir Fotos anschauen und mir die Orte und Ereignisse von Zeitzeugen wieder und wieder schildern lassen – dabei gewesen bin ich dennoch nicht.  

 

Aber das sollte nicht unser einziges Problem sein – vor allem nicht unser größtes. Im Sommer 2016 besuchten Rudi und ich erst Robert und anschließend Gabi, um mit ihnen jeweils vier Tage lang Interviews zu führen. Heraus kamen insgesamt rund dreißig Stunden Interviewmaterial. Zugegeben: Wir hatten eine ziemlich gute Zeit, sowohl in Berlin als auch in Cordoba. Robert und Gabi hatten sich gut auf die Gespräche vorbereitet, jeder auf seine Art. Neben allerlei Fakten bekamen wir auch sehr persönliche Geschichten zu hören, sehr lustige, sehr peinliche oder bizarre. Und die Life-Work-Balance bei diesen Treffen stimmte auch, um es mal so zu sagen. Aber schon bei diesen Gesprächen war ich so manches Mal arg darüber verwundert, wie weit die Erinnerung der beiden an manchen Stellen auseinanderging (dass die Haltung der beiden zu allen Bereichen von Leben und Kunst sehr weit auseinandergeht, ist noch mal etwas anderes und zudem vermutlich so etwas wie ein offenes Geheimnis). Zurück an meinem Schreibtisch, als ich in langen Nächten die Interviews transkribierte, bekam ich zunehmend den Eindruck, dass die beiden sich nicht nur unterschiedlich erinnerten, sondern schlicht nicht auf derselben Party waren. Wie um alles in der Welt sollte man aus zwei so unterschiedlichen Geschichten eine homogene DAF-Geschichte machen? Das war der Moment, in dem ich mich dazu entschied, die Interviews nicht nur als Grundlage für das Buch zu verwenden, sondern Robert und Gabi ihre Geschichte einfach selbst erzählen zu lassen – und Widersprüche offen stehenzulassen. Warum sollte es dem Leser besser gehen als mir? Außerdem wäre es ohnehin nicht authentisch gewesen, Abweichungen so lange auszubügeln, bis daraus eine Geschichte entstanden wäre, die weder der Sicht von Robert noch der von Gabi entsprochen hätte.

 

Mit dieser Idee waren theoretisch auch alle einverstanden. Interessant wurde es dann allerdings, als den beiden die ersten Textentwürfe vorlagen. Dass beide unterschiedliche Version derselben Ereignisse zu Protokoll gegeben hatten, das wussten sie. Wie extrem unterschiedlich diese Versionen waren, war ihnen vermutlich nicht klar gewesen. Und so brach eine äußerst diskussionsintensive Phase des Buches an. Vielleicht sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass auch das restliche Team – also Rudi, Oliver Schwarzkopf, der sich sehr intensiv einbrachte und das Projekt geduldig durch alle Höhen und Tiefen begleitete, und ich – nicht gerade diskussionsscheu sind. Das gute an einer fünfköpfigen Gruppe ist, dass es nahezu unerschöpfliche Allianzmöglichkeiten gibt. Und waren diese doch mal ausgeschöpft, blieb uns immer noch das gute alte „Alle gegen alle“-Spiel. Kurzum: Mehr als einmal stand das Buch auf der Kippe. Und nebenbei gesagt: nicht nur das Buch. Während dieser Zeit wurde ich Zeuge zwei der berüchtigten DAF-Auflösungen. Mittendrin statt nur dabei. Aber was soll ich sagen: Auch das ist eben DAF.

 

Meist standen am Ende dieser desaströs eskalativen Diskussionen allerdings in der Tat Lösungen. Lösungen, mit denen alle leben konnten. Und auch das ist typisch für DAF: Da wurden noch nie von einer Seite zähneknirschend Entscheidungen durchgewunken. Ihr oberstes Prinzip war schon immer gewesen: Ganz oder gar nicht. Beide müssen eine Entscheidung voll und ganz mittragen – sonst kommt sie nicht zustande. So war die letzte Phase eine, in der sowohl Robert als auch Gabi intensiv an dem Buch arbeiteten, Wochen lang Texte durchgingen, korrigierten, Anmerkungen machten, Gegendarstellungen schrieben oder Ergänzungen vornahmen. Bis schließlich dieses Buch vorlag. Es mag hier und da widersprüchlich sein. Es weist mit Sicherheit Lücken auf. Es wird garantiert nicht jedem schmecken. Es wirft an der ein oder anderen Stelle mehr Fragen auf, als dass es Antworten gibt. Es ist vielleicht nicht gerade das, was sich so mancher von einer DAF-Biografie erhofft hat. Aber eins kann man mit Sicherheit sagen: Das ist DAF.

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REISEN
Tanger
Von der Notwendigkeit des Fremdseins

 

Der Zauber von Tanger bestand für mich die letzten Male immer in der perfekten Mischung aus Fremd- und Vertrautheit. Tanger war mir gerade so vertraut, als dass ich mich nicht ernsthaft verlaufen konnte, einigermaßen mit dem öffentlichen Nahverkehr vertraut, über keinerlei Verhaltensweisen verwundert war und immer zumindest grob wusste, was ich wo zu suchen hatte. Und trotzdem war es mir gerade noch so fremd, dass es mich an jeder Straßenecke zu überraschen, zu überwältigen und zu verzaubern wusste. Meine Füße fanden ihren Weg, ohne darüber nachdenken zu müssen, meine Sinne aber wurden jeden Tag gekitzelt von der Lebendigkeit des Nicht-Alltäglichen.
Und dann war da diese ganz besondere Stille, die sich aus der Kakophonie des Sounds dieser Stadt ergibt: Das Rufen der Muezzine, das Kreischen der Möven, die Musik in den Gassen, das Murmeln in den Cafés, das Lachen auf den Plätzen, das Schreien auf den Märkten. Da lagen Versprechen in der Luft, Schwüre, Jauchzer und Flüche, die an meinen Ohren vorbeiglitten, ohne dass ich ihnen eine Bedeutung hätte abringen können und so wurden sie für mich zu einer phantastischen Sinfonie des Fremdseins, zu einer geräuschintensiven, ohrenbetäubenden Stille. Wo ich auch hinkam: keinen kümmerte, ob ich da war oder nicht, und so ging ich, alleine mit mir, unbeobachtet, ungehört, unbehelligt als Geist durch die Metropole der Geister. Das Fremdsein aushalten zu können, heißt sich selbst aushalten zu können, weil man keine Chance hat, sich selbst aus dem Weg zu gehen. Der Blick richtet sich zwangsläufig auf das, was man absichtsvoll aus dem Blick verloren hat. Fremdsein als Weißabgleich für das unscharf gewordene Ich.


Dieses Mal aber war alles etwas anders und es war ganz schleichend gekommen. Ich bemerkte es am Morgen des dritten Tages, als ich am Grand Café de Paris vorbeieilte. Der Kellner, der mir dort seit einigen Jahren meinen Kaffee mit reserviert-distanzierter Freundlichkeit serviert, unterbrach das Aufnehmen einer Bestellung, um mir freundlich lächelnd einen schönen Tag zu wünschen. Als ich wenig später einen Stopp in der Cinematheque de Tanger einlegte, um einen Kaffee zu trinken und meine Gedanken zu ordnen, legte der Mitarbeiter seine Gitarre beiseite, begrüßte mich mit zwei Küsschen und wollte wissen, wo ich heute schon überall gewesen sei und wo ich noch hinwolle. Als ich schließlich gegen fünf für ein paar Fotos in Richtung phönizische Gräber wollte, winkte mich der Hauskeeper der St. Andrew‘s Church auf einen ausgiebigen Plausch herein. Und als mich der Taxifahrer, der mich am 5. Tag zum Flughafen fuhr, mit Namen begrüßte, wusste ich, dass etwas unwiederbringlich verlorengegangen war: Der Zauber des Fremdseins.

LEBEN

Greenbow, Alabama

 

Das dürfte so in etwa im Mai gewesen sein, als ich diesen Zahnarzt kennenlernte. Er trug ein dunkelgrünes, ordentliches Polo-Shirt mit der Stickerei irgendeines Golfclubs auf der linken Brust, durch dessen Knöpfe ein kleines, goldenes Kreuz lugte. Sein Vollbart sah so aus, als bedürfe er täglich intensiver Zuwendung und seine Zähne waren von einer Symmetrie und Weißheit, die ich so noch nicht gesehen hatte. Dass er aus Alabama käme, sagte er, als uns sonst nichts Rechtes zu Reden einfiel. »Greenbow, Alabama?«, fragte ich und diese Worte glitten über meine Weißwein getränkten Lippen, noch bevor mir klar wurde, wie bescheuert diese Frage war.

»Ja, Greenbow, Alabama. Beziehungsweise: Nein. In Wirklichkeit heißt das ja gar nicht Greenbow.«

Ich guckte sichtlich irritiert und orderte mehr Weißwein.

»Ernsthaft jetzt?«

»Winston Groom lebt da auch. Wir kennen uns ganz gut. Na ja, in so einem Städtchen kennt eigentlich jeder jeden ganz gut«, gab er betont gelangweilt von sich.

»Ahwas. Und, also, ich mein, wie is der so? ›Forrest Gump‹ hab ich bestimmt dreißigmal gesehen. Ich liebe diesen Film!«

Der vollbärtige Zahnarzt aus Greenbow, Alabama, winkte ab. »Ich will dich ja jetzt nicht desillusionieren.«

Ich guckte ein paar Fragezeichen in die Luft.

»Na ja, ich glaub einfach, man findet den Film besser, wenn man Groom nicht kennt.«

Ich verstand immer noch nichts.

»Der Mann ist der größte Zyniker, den ich je getroffen habe – und Alkoholiker noch obendrauf.«

Den letzten Satz sagte er so, dass er keinen Zweifel daran ließ, dass selbst ›diktatorisch‹ oder ›faschistisch‹ vergleichsweise harmlose Eigenschaften wären. Und so ging ich ihm in der Dynamik des Gesprächs auf dem Leim und sagte betont entsetzt: »Oh nein, das ist ja furchtbar!«

 

Der Zahnarzt aus Greenbow, Alabama, hatte sich schon vor einer Weile ins Bett verabschiedet, als ich immer noch am Tresen saß und darüber nachdachte. Jaja, das wollen wir alle. Die ganz große Literatur, die Themen, die uns bewegen und berühren, die uns den Atem anhalten lassen, die das ganze Dilemma der menschlichen Existenz erfassen und die Abgründe des Daseins bis in seine tiefsten Winkel ausleuchten. Aber bitteschön von jemanden geschrieben, der mit alldem nach Möglichkeit noch nie in Berührung kam.

Ich überlegte eine Weile. Bücher, Gedichte, Songs oder auch nur einzelne Zeilen, die mich in meinem Leben bewegt und zum Nachdenken gebracht hatten, fielen mir viele ein. Sie stammten allesamt von Lakonikern und Zweiflern, Hinterfragern und Mahnern oder aber eben von Zynikern und Alkoholikern.

Ich überlegte angestrengt weiter. Aber selbst nach einer weiteren Flasche Wein, wollte mir nicht eine einzige brillante Zeile einfallen, die von einem gläubigen, golfenden, früh zu Bett gehenden Zahnarzt, der in einer Reihenhaussiedlung in einer amerikanischen Vorstadt lebt, verfasst worden wäre.

 



 

MUSIK
Craziness is holy - Conny Plank auf der IAA

Ich hatte noch ganz kurz überlegt, ob ich vielleicht jemanden fragen sollte, ob er mitkommen will. Aber zum einen fiel mir so spontan niemand ein, dem ich einen Film über Conny Plank als die perfekte Freitagabendbeschäftigung hätte unterjubeln können. Und zum anderen passieren die besten, schönsten, lustigsten, intensivsten, denkwürdigsten Geschichten doch meist dann, wenn man alleine um die Häuser zieht. Einfach weil die Aufmerksamkeit beide Hände frei hat.

 

Festhalle Frankfurt hatte zwar irgendwie merkwürdig geklungen als Ort für eine Filmvorführung, so richtig Gedanken darüber gemacht habe ich mir allerdings erst, als ich mit meinem Wegbier und in meiner Lederjacke versuchte, am Eingang Festhalle Süd auf das Gelände zu kommen, wo gerade hunderte von Anzugträgern und Yuppies rausströmten. Hätte ich nicht vor geraumer Zeit damit aufgehört, mich von so etwas irritieren zu lassen, ich wäre mir vermutlich komisch vorgekommen. Der völlig gestresste Cheftürsteher redete auf mich ein, ich sei zu spät und völlig falsch weil Ausgang statt Eingang und so. Komisch eigentlich, dass Menschen dazu neigen, Fragen zu beantworten, die niemand gestellt hat oder Probleme zu behandeln, die sie erst durch das Attestieren ihrer Unlösbarkeit selbst schaffen. In einer Grenzform von Kommunikation fand ich schließlich doch noch heraus, dass da drinnen grade IAA war und er, dass ich da gar nicht hin will. Mittlerweile hatten sich zwei weitere Robert Johnson-Gäste zu mir gesellt und erzählten dem Herrn in der blauen Jacke mit dem hochroten Kopf ebenfalls irgendwas von Filmvorführung, Diskussionsveranstaltung, Conny Plank und Clubnacht. Nachdem der Herr mehrfach behauptet hatte, sowas gäbe es auf der IAA nicht, knickte er schließlich ein und ließ uns durch. Ohne in unsere Taschen geguckt zu haben. Ohne irgendeine Form von Eintrittskarte von mir sehen zu wollen (die ich gar nicht hatte). Memo: Also wenn man denn unbedingt mal irgendwo rein muss mit unkontrollierten Taschen … unbedingt drauf achten, von seinem Gegenüber in die Kultur-Schublade gesteckt zu werden: Absolute Spinner, aber völlig harmlos. Dafür fing uns dann in der Festhalle direkt ein aufgeregter Herr ab, der wissen wollte, was wir im Backstagebereich verloren hätten und wie wir hier rein gekommen seien. Er telefonierte dann eine Weile mit allen möglichen Menschen, während er uns durch eine Halle voll anderer Menschen, die auf Autos glotzten, Richtung Ausgang schob. Ergebnis: Wir mussten da raus um anschließend ordnungsgemäß und erfasst wieder reinzukommen. Sicherheit und so. Die Idiotie sah ich ihm nach, weil es draußen erst mal zwei Jägermeister gab. Einfach so. IAA? I like.   

 

Wieder auf dem Gelände und endlich in der Festhalle kam es zu erheiternden Gesprächen in der Begegnungsstätte Damentoilette: Daimler versus Conny Plank. Ratlosigkeit auf beiden Seiten. These, Antithese, Autobahn. Auf dem Weg zu unseren Sitzplätzen bekam jeder noch einen ziemlich großen, randvollen Becher Wein und Popcorn in die Hand gedrückt (muss vermutlich nicht erwähnt werden, dass ich das Popcorn dankend abgelehnt habe). Verdächtig, verdächtig.

 

Nach einem kurzen einführenden Gespräch zwischen Heiner Blum und Stephan Plank ging es dann endlich los. Ein sehr emotionaler Film natürlich. Das war zu erwarten. Ein Sohn, der sich auf Spurensuche begibt; der mehr erfahren will über die Lichtgestalt Conny Plank, die sein Vater war; der Antworten auf Fragen finde möchte, die er seinem Vater nie stellen konnte, weil der starb, als der Sohn gerade mal 13 war; der die Menschen aufsucht, mit denen er immer um die Aufmerksamkeit seines Vaters buhlen musste. Eine gelungene Mischung aus Roadtrip, musikhistorischer Dokumentation, Liebeserklärung an Conny Plank, Musik und Eigenweltlichkeit – und einer Familiengeschichte natürlich. Kann ich euch nur ans Herz legen. Am 28. September 2017 läuft der Film in den deutschen Kinos an. Haltet Ausschau danach. Mehr Infos zu dem Film findet ihr unter Conny-Plank.de.

 

Eigentlich wollte ich ja direkt nach dem Film nach Hause. Aber das Konglomerat aus gleichermaßen  beeindruckender wie schräger Kulisse, einem Bass, der einem die Herzfrequenz vorgab und sämtlichen Kalk aus dem Hirn föhnte,  super netten Gesprächen und viel Gin mit wenig Tonic (für den schon wieder niemand Geld haben wollte), überzeugte mich dann doch recht schnell von einer Planänderung.

 

Viel, viel später als geplant zurück in Mainz, schwankte ich auf dem Fußmarsch nach Hause wieder an diesem völlig idiotischen Plakat vorbei. „Bier vor vier. Eiskalt durchgezogen.“ Mein derzeitiges Lieblingsthema. Sind das die Verrücktheiten, von denen wir unseren Enkeln noch erzählen werden? Vom Bier vor vier? Da ist aber noch jede Menge Luft nach oben. Wo sind sie denn heute, die Zappas und Thompsons, die Lemmys und Planks? No rules! Craziness is holy. Denkt mal drüber nach.   

 

LEBEN
Die Weisenau-Dialoge
Rentner im REWE

 

 

 

Nun ist es ja so, dass ich im Grunde nichts gegen Entschleunigung habe. Ich bin sogar bereit, eine grundsätzliche Langsamkeit als Bollwerk des Widerstands gegen den Geschwindigkeitsrausch unserer Zeit zu akzeptieren. Nur: Meins ist das nicht. Und so erliege ich auch regelmäßig einem nervösen Augenzucken, wenn es sich dann doch mal nicht vermeiden lässt, den REWE in Weisenau zu betreten. Wenn Weisenau das Sanatorium von Mainz ist, dann ist der dortige REWE dessen Aufenthaltsraum. Der Ausspruch meiner Nachbarin: »Warnse beim REWE? Ich geh do aach als gernn hie«, bringt das Dilemma ganz gut auf den Punkt.
Das sage ich ihr natürlich nie, aber für mich ist das Einkaufen von Lebensmitteln der Inbegriff der Sinnlosigkeit unseres Daseins, die Perversion der Wiederkehr des immer Gleichen in all ihrer Profanität. Man kauft dasimmerselbe ein, schleppt es nach Hause, räumt es an dieimmerselben Orte, isst es auf, scheißt es aus, geht wieder einkaufen usf. … und all das ohne die Aussicht, diesen Kreislauf jemals durchbrechen zu können. Wenn das nicht die Hölle ist, hab ich das Konzept "Hölle" nicht verstanden.
Potenziert wird das Ganze in eben jenem Tempel der Trutschigkeit, dem Weisenauer REWE. Da wandeln verträumte Rentner und Hausfrauen gemächlich durch Reihen und lassen ihre Blicke zärtlich über produktbefüllte Regale gleiten, wie andere ihre Hände über Ähren und Mohnblüten eines Kornfeldes. Da schneiden sich an Rollatoren festkrallende Menschen stundenlang unbeirrt den Weg zur Wasserversorgung ab, um lautstark die ihnen widerfahrenen Vorstadtabenteuer des Vormittags auszutauschen. Da gleicht der Parkplatz dem Autoscooter eines Dorfrummels, wo gerne mal, trotz der konstruktiven Hinweise von Tude, Hilde und Herbert, in 127 Zügen ausgeparkt wird – bei Fremdautokontakt wird verkniffen gekichert. Würde man mir sagen, dass man diese Autos mit Einkaufswagenchips zum Fahren bringt, ich wäre nicht verwundert. Die soziale Funktion dieses freundlich ausgeleuchteten Konsumtempels in allen Ehren, ABER …

 

Nun kommt es aber vor, dass ich mich hin und wieder aus niederen Beweggründen und wider besseren Wissens dazu hinreißen lasse, diesen Laden zu betreten. So wie heute. Mit der Absicht, "schnell" noch eine Flasche Wasser zu erstehen, bevor ich den Rest des Tages damit zubringe, in einem Bus nach Berlin zu sitzen. Meine kurzzeitige Begeisterung die Übersichtlichkeit der Kassenschlange betreffend hatte sich schnell erledigt, als ich bemerkte, dass die ältere Dame vor mir offenkundig gerade ihren Fünfjahreseinkauf getätigt hatte. Auf die Idee, mich mit meiner einen Wasserflasche vorzulassen, kam sie selbstredend nicht. Ungeduld zerrte an meinen Nerven, während sie sich für einen ausgedehnten Plausch mit der Kassiererin warmlief. Als das Wetter und die damit verbundenen diesjährigen Kirschpreise abgehandelt waren, ging es weiter mit dem Ach und Weh über das Abstoßen des eigenen Gartens. »Ich hunn immer so viel Spass dran gehabt. Abber Erwet wars schun gewest. Es macht jo aach alles nimmi so wies soll im Alder«, berichtete sie während der beschaulichen Befüllung ihres Einkaufswagens.
Aus einer Übersprungshandlung heraus beging ich den törichten Fehler, alle 15 Sekunden auf die Uhr zu gucken und nervös vom einen Bein aufs andere zu treten.
»Da hats wohl jemand eilisch?«, lächelte mir Slowhand entgegen.
»Mhm«, brummte ich tonlos zurück.
»Missese schaffe?«
Weiß der Teufel, warum ich ihr antwortete, aber ich sagte wahrheitsgemäß: »Nein. Zum Bahnhof muss ich.«
Und obwohl ich dabei guckte wie Ivan, der Schreckliche - oder es zumindest versuchte - plapperte die Alte ausnehmend freundlich weiter auf mich ein in ihrer rheinhessischen Übergriffigkeit.
»Wegfahn kennt ich a mol widder. Wo gehtsn hie?«
Der erneute Blick auf die Uhr verriet mir, dass es noch 25 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges waren.
Ein- bzw. viersilbig antwortete ich: »Berlin. Hochzeit.« Und gab mir allergrößte Mühe nicht loszubrüllen: »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sie alte Schildkröte! Hier sind 50 Cent, damit zahlen Sie gefälligst mein Wasser und jetzt schieben Sie gefälligst Ihren Arsch beiseite – ich muss zum Bahnhof!«
Inzwischen zählte sie ihre 38,97 € in einer Graf Zahl-artigen Performance Münze für Münze in die Hand der Kassiererin. Als sie damit fertig war, machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit. »Wissense, als mein Mann und ich damals ge…«
»Entschuldigung«, unterbrach ich sie unwirsch, »aber ich muss wirklich dringend zum Bahnhof!!!«
Ich schob mich an ihr vorbei.
»Do däd ich näxdes mol friher ausm Haus gehe.«
Ich drehte mich ein letztes Mal zu ihr um. »Ich konnte nicht ahnen, dass ich zwanzig Minuten für diese Flasche Wasser anstehen würde.«
»Erst zu spät loslaafe un dann anndere Leit rumscheische. Sie benemme sich grad, als wär des ihrn REWE!«

 

Ihre Worte hallten noch in meinen Ohren nach, als ich atemlos Gleis 5 erreichte, wo ich die Rücklichter der Regionalbahn nach Frankfurt noch sehen konnte.

 



LEBEN

Vorwort zu »Fledermausland«

(»Diverse Wahrheiten über Wasserstände, Paranoia, Journalis-mus und Hunter S. Thompson«)

 

Gottverdammte Scheiße, es ist schon Ende April. Ich sitze im Schneidersitz auf dem kleinen rosa Teppich in meinem Büro, um mich herum jede Menge Papierstapel mit diversen bunten Klebezettelchen mit wirren Nachrichten drauf. Dabei hatte ich eigentlich gesagt, Abgabetermin sei Ende April und nun ist Ende April und 90 % der Textbeiträge sind da. Autoren sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Saufen nicht mehr, rauchen nicht mehr und schicken ihre Texte fristgerecht. Wo soll das nur enden? Ich stehe auf, gehe zum Schnapsschrank (der eigentlich ein Badezimmerschrank ist), suche vergeblich nach Schnaps und finde stattdessen ein Post-it an der Spiegeltür: »Schreib endlich das beschissene Vorwort! Paula«.

Gehe zurück auf meinen Teppich und starre die Papierstapel an. Vielleicht bringen sie sich von alleine in die richtige Reihenfolge, wenn ich sie nur lange genug anstarre. Als sich nach einer halben Stunde nichts, aber auch gar nichts bewegt hat, stehe ich auf, um den Ventilator einzuschalten. Und den Fernseher. Man muss sich selbst nur zu triggern wissen. Und das richtige Fernseh-Hintergrund-Programm hat mich noch immer in eine äußerst meditative Stimmung versetzt, die ich mal mit kontemplativem Hutschnurriss umschreiben will. Das ist genau die Stimmung, die ich jetzt brauche. Schreibe Paula eine SMS: »Bring Schnaps.« Schicke eine zweite hinterher: »Den Rum mit der Fledermaus.« Vielleicht wirkt diese provozierte Koinzidenz gegen Ende der Flasche wie eine tatsächliche und gibt mir etwas Wind unter die Flügel. Man fällt auf so viel Scheiße rein, warum nicht auf sich selbst.

 

Dann kann’s ja losgehen. Am anderen Ende der Nacht muss hier ein einziger Stapel mit den Texten in der richtigen Reihenfolge und ein Vorwort liegen. Sollte zu machen sein.

 

Entschließe mich dazu – um in Stimmung zu kommen –, die grenzdebilsten Antworten durchzugehen, die ich auf meine Anfrage hin erhalten habe. Bis ich die Texte zusammen-gesammelt habe, ist aber schon wieder der halbe Abend rum – wer soll hier auch irgendwas finden in diesem unsäglichen Chaos umhergewehter Blätter. Finde sie schließlich und beschließe sie ihrer Bescheuertheit nach zu sortieren. 

 

Platz fünf, SMS, 06. April 2014: »Bei Gelegenheit musst du mir mal erklären, was eigentlich der Titel Fledermausland bedeuten soll. Wie bist du denn darauf gekommen?« Nehme eine Broschüre des Fledermauszentrums Hannover aus dem Regal, unterstreiche mit einem Lineal den Satz: »Sie möchten die Zukunft der Fledermäuse in Hannover und der Region aktiv mitgestalten und sich im Fledermausschutz engagieren?«, stecke sie in einen an die Fragerin adressierten Umschlag und abonniere in ihrem Namen den kostenlosen Newsletter des Fledermauszentrums. Denke die Frage damit ausreichend beantwortet zu haben.

 

Platz vier, Mail, 18. Oktober 2013: »Klar mach ich da gerne mit. Nur hilf mir mal kurz auf die Sprünge: Wer war noch mal Thompson?« Zücke mein Notizbuch und setze den Absender dieser Mail auf meine Schepper-Liste. Eines schönen Tages, es wird vermutlich ein Sonntag sein, werde ich auf einem alten rosa Moped durch die Republik tuckern, um diese List abzuarbeiten. Ich werde bei jedem darauf Befindlichen klingeln, werde ihm wortlos lächelnd eine scheuern, dass es nur so scheppert, mich umdrehen, auf mein Moped setzen und zum nächsten fahren. 

 

Platz drei, Mail, 14. Februar 2014: »Lange nichts von dir gehört. Wegen der Thompson-Anthologie: Ich hab nie viel von Burroughs gehalten, und am Mainstream abarbeiten mag ich mich zur Zeit auch net.« Frage mich kurz, ob das nun eine Absage oder der eingereichte Text ist. Verwerfe den Gedanken, dies beim Autor zu erfragen. Wäre allerdings in höchstem Maße peinlich, einen eventuellen literarischen Geniestreich nicht als solchen erkannt zu haben. Wer will schon als Putzfrau, die artifizielle Fettcken aus der Kloschüssel des Kulturbetriebs entfernt, in die Literaturgeschichte eingehen? Beschließe, die Zeilen unauffällig in die Anthologie einfließen zu lassen. Mögen andere darüber urteilen.

 

Platz zwei, SMS, 25. März 2014: »Bin gekidnappt in Bus, nach DesignerEssen, voll in den Klauen der PR Agentur oder Gecken Brooklyn Bros. Nähern uns dem Airfield, auf dem ein paar Weltmeister mit LuxusSportwagen durchs Schwarz der Nacht rasen, auf d. Suche nach d. Runway, nehme ich an. […] oh, Check. in, müssen noch ein Geheimhaltungsabkommen unterzeichnen, sonst werfen sie einen hier raus. In der DDR. Dem Koreaner ist das Lachen im Hagel d. Nacht schon gefroren.« Leuchtet mir ein, dass er unten den Umständen keinen Text schicken konnte. 

 

Platz eins, facebook PM, 27. Januar 2014: »Super, eine Thompson-Anthologie! Wenn der alte Hurenbock mal kein Heiliger war! Huren, (Hells-)Angles, Outlaws und die Vertreibung der Ketzer aus dem Tempel. Finde man müsste versuchen, ihn in Rom heiligsprechen zu lassen. Wir sollten dringend telefonieren!« Um Himmels willen, Spinner gitb’s! Ziehe vorsichtshalber die Gardinen zu. Nehme einen alten Duden, streiche darin das Wort »Panama« an und nehme mir vor, ihn dem Wirrkopf zu schicken. [Vorsprung durch Irritation.]

 

An der Tür klingelt irgendein Vollidiot Sturm. Dafür kann es eigentlich nur zwei Gründe geben. Entweder sind’s die ehemals Grünen, weil irgendeiner der senilen Nachbarn mal wieder vergessen hat, sein Hörgerät auszuschalten und einen Anruf wegen Lärmbelästigung getätigt hat. Aber wenn ich leise Fernsehen höre, erfüllt das einfach seinen Zweck nicht. Oder es ist Paula, die auf dem Weg hierher die Flasche Rum leergesoffen hat und beim Versuch die Klingel zu betätigen vornüber gegen selbige gekippt ist, wo sie jetzt eingeschlafen ist. 

 

Bin dann irgendwie doch beruhigt, dass es nur Paula ist, die mir meine Flasche Rum in die Hand drückt. Die Flasche Chivas, die sie in der andern Hand hält, will sie aber partout nicht hergeben. Wir setzen uns erst mal auf den Teppich und starren in den Fernseher. Auf meiner Flasche Rum klebt ein Post-it: »I have a theory that the truth is never told during the nine-to-five hours. Paula«

 

Paula nimmt einen Schluck aus ihrer Flasche, angelt sich die Fernbedienung und schaltet um. Über die Scheibe flimmert Putin, der sich grade einer Fragerunde hingibt. Fragen darf auch Snowden und das tut er und zwar, wie das mit der Überwachung in Russland so aussieht. Die gäbe es zwar, aber nicht so flächendeckend wie in den Vereinigten Staaten, kontrollierter. Während er starr in die Kamera sieht, krieche ich auf allen Vieren zum Fernseher. Nein, auch aus der Nähe ist da kein Grinsen zu entdecken. Also grinse ich für ihn. Paula schaltet um und wo eben noch Vladi die Wirklichkeit wegzuhypnotisieren versuchte, schaut mir nun Obama sehr bedeutungsschwanger in die Augen und verkündet, dass er es für falsch und bedenklich hält, sich einfach in die Belange eines fremden Landes einzumischen. Ich habe gerade genug Zeit mit Sicherheit und einem noch breiteren Grinsen festzustellen, dass auch er nicht grinst, als Paula wieder umschaltet und bei Lars Reichow hängenbleibt, der seltsamer Weise just in diesem Moment die Frage aufwirft, ob Afghanistan an der Ost- oder Westküste Amerikas liegt. Reichow grinst. Ich jetzt nicht mehr. Unheimlich, der Typ. Frage mich kurz, wieso der meine Gedanken lesen kann, rappel mich auf, um mir in der Küche ein Nudelsieb zu holen, das ich mir auf den Kopf setze. Sicher ist sicher. Kein allumfassender Schutz, aber so kann man meine Gedanken wenigstens nur in Form von Spaghetti aus meinem Gehirn ziehen und in der Form dürfte es schwierig genug sein, ihnen einen Sinn zu entlocken. 

 

Paula fängt an, in den Texten zu lesen.  Im Fernsehn läuft irgendwas Comedymäßiges. Ich schalte um. »Man, was ist das denn für irres Zeug?«, fragt Paula, als sie kopfschüttelnd und mit einem delacroixmäßigen Faltenwurf auf der Stirn ein paar Textseiten überflogen hat. »Fledermausland-Anthologie«, nuschle ich, als ich ihre Unaufmerksamkeit genutzt habe, um einen großen Schluck aus ihrer Flasche zu nehmen.

 

»Entertainment ist halt das Wichtigste«, sagt Jan Delay, als er bei aspekte gefragt wird, ob man als Künstler unpolitisch sein könne. 

 

»Is’ da auch dieser Typ dabei, der seine Socken immer paarweise aufhängt?«, will Paula wissen.

 

»Mhm«, nicke ich. Und mit einem »Aha« finalisiert Paula diesen Jahrhundertdialog. Prost!

 

Paula greift nach den Post-its, schreibt in etwas, was sie vermutlich für Schönschrift hält »Yesterday’s weirdness is tomorrow’s reason why. Paula« drauf und klebt es an die Seite meines Schreibtischs. Sie zieht einen aufgerissenen Briefumschlag aus einem der Papierstapel und verliest: »Fleeeeedermausland ist gleich JENES Königreich der Angst KOMMA in dem Paranoia und ANFÜHRUNGSZEICHEN UNTEN objektive Umstände SLASH äußerliche Widrigkeiten ANFÜHRUNGSZEICHEN OBEN grenzenlos ineinander übergehen KOMMA entgrenzter Wahnsinn durch nicht mehr unterscheidbare Unterscheidung der Ursache- SLASH WirkungRückkopplung KOMMA psycho-geographisch zu verordnen an jenem Punkt der Nichtunterscheidbarkeit zwischen innerlichem und äußerlichem KOMMA zwischen deduktivem und induktivem strukturellem Wahnsinn PUNKT Interzone PUNKT Fledermausland PUNKT« 

 

»In dieser Form entspräche sie nicht humanen Maßstäben«, kommentiert das sprechende weiße Haus und meint damit die »gescheitere« Vollstreckung einer Todesstrafe an einem vermeintlichen Frauenmörder, der nach grauenvollen 43 Minuten schließlich durch einen Herzinfarkt erlöst wurde.

 

Paula schlägt mit ihrer Flasche auf mein Nudelsieb. »Den Scheiß schreibst du aber nicht ins Vorwort!« Manchmal ist sie schon ein bisschen sonderlich. 

 

Ich rolle mich auf dem Teppich ein und wechsle das Programm. Ein Mann im Anzug sagt gerade, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Den Satz hab ich zum ersten Mal im Sozialkundeunterricht in der 10. Klasse gehört und seitdem hat sich an ihm nichts geändert. Der Satz ist wie Weihnachten. Der kommt jedes Jahr wieder. Frage mich, ob es sich bei dieser Schere um eine Zauberschere handelt. Wie sonst könnte man sie jedes Jahr noch weiter auseinander machen – und es scheint ja noch Luft zu sein. Warte jährlich auf die Meldung: Schere kaputt. Klappe zu. Affe tot. 

 

Paula zieht weitere Textseiten unter mir hervor. Schalte um zu einem anderen an einem Tisch stehenden Mann im Anzug, der gerade sagt, dass die Schere zwischen Arm und Reich … Scheiß Agentur-Rezitatoren! 

 

»Ey Mann, in diesen Redaktionen geht’s doch zu wie in Rüsselsheim am Fließband! Nur dass die einen Autos zusammensetzen und die anderen Nachrichten-Meldungen«, kommentiert jetzt sogar Paula. Hä? Kann nicht nur Lars Reichow sondern auch Paula meine Gedanken lesen? Das Nudelsieb scheint nicht ganz gedankendicht zu sein. 

 

Ich nicke und klebe derweil die Löcher meines Kopfschutzes von innen mit Post-its zu. Paula rafft alle Seiten zusammen, derer sie habhaft werden kann und verzieht sich in die Küche. Schalte um, bleibe in einem Dritten hängen, wo »nun weitere Meldungen aus Deutschland und der Welt« rezitiert werden und auch hier wird nicht versäumt, den Satz mit der Schere aufzusagen. Das beruhigt mich, denn dann kann so viel richtig Schlimmes heute nicht passiert sein. Paula stapft auf den Flimmerkasten zu und klebt ein Post-it dran: »Poor bastard. Wait `till he sees the bats. Paula«. Und Abgang nach links.  »Das hast du jetzt von deinem scheiß Koinzidenzdings«, schimpft sie vor sich hin und ein Band an Anne Wills unterem Bildschirmrand informiert darüber, dass Giacomo Corneo vor einer Spaltung der Gesellschaft warnt. Sollte man vielleicht mal Warnschilder aufstellen, vielleicht so zwischen Prenzlauer Berg und Wedding, denke ich. Please mind the gap.

 

Setze mir mein jetzt vollständig mit Post-its abgedichtetes Nudelsieb wieder auf. Recht hat sie. Schreckliche Zeiten, alles so schrecklich durcheinander. Man tut gut dran, eher den Literaten als den Journalisten zu glauben. Journalisten rezitieren Agenturen, zitieren Literaten, bebildern großformatig, bunt, bewegt, brechen selbst die komplexesten Themen idiotengerecht runter – und dennoch wird man nur schwerlich schlau aus dem verdächtig unterkomplexen Wirrwarr. Vermute, Nachrichten sind die Fortführung von Kindergartenpädagogik mit gleichen Mitteln. Was im Kindergarten der Nikolaus oder der liebe Gott, ist später die Institution Nachrichten: Sieht alles, hört alles, weiß alles und hat auf alles eine Antwort. Der Unterschied: Kindern kommen früher oder später Zweifel am Konzept Nikolaus. Der Zweifel am Konzept der objektiven Berichterstattung bei Erwachsenen bleibt meist aus. Trinke zur Prävention und Deeskalation der Lage erst mal einen großen Schluck Rum. Macht’s doch lieber wie die Literaten und markiert den Standpunkt, von dem aus ihr erzählt – und vor allem das kleine bisschen Blickfeld, das ihr von da aus habt. Nehme mir vor gleich morgen einen Brief an den Presserat zu schreiben, mit dem Vorschlag, halbjährige, unbezahlte Praktika bei Autoren zu Pflichtmodulen in Volontariaten zu machen. 

 

»Warum ändert sich nichts, wenn doch alle wollen, dass sich was ändert?«, fragt nun Kleber, meint damit allerdings die kalte Progression und nicht den trägen Journalismus. Halte es aber auch ohne die Absolution von Kleber für eine ziemlich gute Idee, die beiden Disziplinen Journalismus und Literatur zu kreuzen und die Protagonisten der beiden Zünfte dazu zu inspirieren, sich gegenseitig mit Skills auszuhelfen. Liternalismus. Okay, man sollte noch ein griffigeres Wort dafür finden. Vielleicht was Italienisches. Berichte Paula lautstark von meiner mir grandios vorkommenden Idee. Paula antwortet mit einem aus der Küche fliegenden Kochlöffel auf dem ein Post-it klebt. Drauf steht: »Vollidiot! Paula«

 

Sie meint damit vermutlich Obama, der grade neben Merkel steht und verkündet: »Deutschen Bürgern, die Zugang zum russischen Fernsehen haben, empfehle ich: Konzentriert euch auf die Fakten! Schaut euch an, was wirklich passiert!« 

 

Der Typ ist mir ziemlich unheimlich. Die Typin nebendran nur unmerklich weniger. Fege mit einer Handbewegung meinen Schreibtisch leer und kippe ihn um, so dass ich mich dahinter verschanzen kann. Fange an, mit einer Kinderarmbrust made in China Saugnapffeile auf Obama zu schießen, die aber völlig leidenschaftslos von der Scheibe abprallen. Na schönen Dank China, für deine Unterstützung. Während ich hier mit meinem Nudelsieb auf dem Kopf, der Flasche Rum zwischen den Zähnen und der nicht wehrfähigen Armbrust im Anschlag hinter dem Schreibtisch kauere, schießt Obama mit schweren Geschützen zurück, so dass die Worthülsen nur so zu Boden prasseln. Ich befürchte, ich werde die Stellung nicht lange halten können. Obama bekommt Deckung von Steffen Kampeter, der in Dingen Schere empfiehlt, sich nicht Statistiken, sondern die Realität anzugucken und während ich mich verzweifelt um Aufrüstung bemühe, zischen Tautologien und falsche Konjunktive an meinen Ohren vorbei, bricht ein Hagel von Oxymora über mir herein und vernebeln mir Monocausalitäten die Sinne. Denke kurz darüber nach, um Hilfe zu rufen, als ich mich damit abfinde, dass es diese Schlacht alleine zu schlagen gilt. Schieße mahnend weitere Pfeile Richtung Front, was sofort mit einer Salve von Phrasen pariert wird: Leistung muss sich lohnen und die Reichen werden immer reicher. Sinke stark verwundet wieder hinter meinen Schreibtisch, schreibe mit meinem blutenden Mittelfinger an die weiße Wand, die meine Trutzburg flankiert: »Heute kam es auf dem Allgemeinplatz wieder zu erbitterten Kämpfen.« Jetzt mischt sich auch Anne Will in die Diskussion ein und fragt mit ruhiger Stimme und sanftem, mädchenhaftem Lächeln: »Ist Deutschland gespalten in Arm und Reich?« Ja guckt die denn keine Nachrichten? 

 

Anne geht, Klaus Kleber kommt. Paula auch, und zwar mit einem weiteren Post-it, das sie zur Stärkung meines Durchhaltevermögens an die Unterseite der Schreibtischplate klebt: »No sympathy for the devil; keep that in mind. Buy the ticket, take the ride. Paula«

 

Klaus sagt, dass demnächst Welttag der Pressefreiheit sei. Man solle daran denken, dass man als Journalist in vielen Ländern nicht alles sagen könne, was man wolle. Vergisst aber zu erwähnen, dass man als Journalist in unseren Landen nicht alles sagen will, was man sagen könnte. Vielleicht gibt’s ein Problem mit dem Prompter. Is’ das nicht die häufig zitierte zweite Seite der Medallie? Ist Pressefreiheit jetzt ein Recht oder eine Pflicht? Da kommt man ja ganz durcheinander. Verlasse mein Versteck, um die Pfeile wieder einzusammeln, um auch Klaus mit einem zu bedenken. Bin aber von Natur aus ein eher vorsichtiger Mensch und trinke darum vorher prophylaktisch noch einen Schluck Rum. 

 

Muss an einen Liedermacher aus der ehemaligen DDR denken, der kurz nach dem Mauerfall sagte, dass man es als Künstler ohne DDR und kalten Krieg bedeutend schwerer habe, da es einem an klar definierten Feindbildern fehle, das sei jetzt alles viel subtiler. Steht zu befürchten, dass er sich ganz gut akklimatisiert hat.

 

Klaus macht noch eine schmissige Überleitung zum Wetter und ich frage mich, ob der eigentlich auch noch einen anderen Gesichtsausdruck kann. Aber das ist den meisten Nachrichtensprechern ja gemein. Vermute, dass die öffentlich-rechtlichen einen Sponsoring-Vertrag mit der Botox-Lobby haben und den meisten Moderatoren überdosisbedingt einfach kein anderer Gesichtsausdruck möglich ist. Stelle mir vor, wie während der Spätnachrichten im Studio ein Großbrand ausbricht. Kleber, mit nachrichtlicher Miene: »Soeben kam es im Nachrichtenstudio des ZDF zu einem Großbrand. Bisher kamen vier Menschen ums Leben, drei wurden schwer verletzt. Wie es zum Ausbruch des Feuers kam, ist bislang unklar. Und nun weitere Meldungen des Tages. Die Schere zwischen Arm und Reich …«

 

Finde beim Durchschalten keine weiteren Nachrichten. Feuerpause des Gegners? Bleibe an einem Comedy-Kasper hängen, der grade der großen Koalition den Scheitel zieht. Trinke vorsichtshalber noch einen Schluck Rum. Safty first. Eigentlich komisch. Alle wissen’s. Alle haben längst gecheckt, dass hier so einiges völlig aus dem Ruder läuft. Und durch die Reihen der teilnehmenden Beobachter geht ein irres, hysterisches Lachen. Fledermausland. Überall. Wenn man an einem wolkenlosen Tag im Park spazieren geht oder nach Feierabend auf seine Bahn wartet; wenn man in einer regennassen Nacht durch die Adern einer Großstadt gepumpt wird oder auf dem Schrottplatz der Eitelkeiten liegt; wenn man sich vom Fernseher berieseln lässt oder auf einen steilen Hügel in Las Vegas klettert – wenn man die richtigen Augen hat, dann kann man sie sehen. Es herrscht Wahnsinn in jeder Richtung, zu jeder Stunde. Und keiner kommt hier lebend raus. Wer hier nur seinen Verstand verliert, hat am Ende ’ne ziemlich gute Partie gemacht. Die Zustände sind längst irre. 

 

Trinke den letzten Schluck Rum, rolle mich auf meinem Teppich ein und versuche die Fledermaus zu hypnotisieren, die die leere Flasche bewacht. Scheiß Koinzidings, murmele ich und sinke in irre Träume.

 

Gottervdammter Scheiß, es ist immer noch Ende April. Ich liege eingerollt auf dem rosa Teppich in meinem Büro. Vor mir liegt ein Stapel Papier. Um mich rum eine Schneise der Verwüstung. Mir drängt sich die Ahnung auf, dass sich in der vergangenen Nacht schlimme Dinge ereignet haben müssen. Raffe mich auf, wage es, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Keine ersichtlichen Auffälligkeiten. Nehme mir den Textstapel zur Hand. Dazwischen finde ich Trennblätter mit Kapitelüberschriften. Die sich dahinter befindenden Texte scheinen sich sinnig einzufügen. War doch klar, dass das in einer Nacht mit genügend Rum und Nachrichten kein Problem sein würde. Auf der ersten Seite des Manuskripts klebt ein Post-it: »Wer ist eigentlich dieser Hunter? Paula«.

 

LEBEN
Syrer raus!

 

 

 

Der Mensch im Allgemeinen ist ein soziales Wesen. Und der Mainzer im Speziellen ist ein besonders soziales Wesen. Oder sagen wir: Ein geselliges. Zumindest behauptet er das gerne von sich. Wie gut also, dass es in der Landeshauptstadt nie an Anlässen mangelt, das Haus zu verlassen. Ob nun Weinfeste, Johannisnacht, Open Ohr, Konzerte am Zollhafen oder auf der Zitadelle, Kultursommer oder Museumsnacht. Und an den Tagen, an denen nichts dergleichen stattfindet, gibt es immer noch die Rheinstrände oder die Parks.

 

Zumindest sei das früher so gewesen, belehrte mich unlängst meine siebzigjährige Nachbarin, ohne, dass ich sie danach gefragt hätte. Früher, da hätte man ja so schön durch den Volkspark spazieren können, sagt die stets Hut tragende alte Dame, die ihre Tage gerne gemeinsam mit Hund und Mann im Fernsehsessel verbringt. Meine mir oft zum Verhängnis werdende Freundlichkeit, gepaart mit drei Schippen Neugier, veranlasste mich dazu nachzufragen, warum das denn heutzutage nicht mehr möglich sei.

Das sei nicht mehr ihr Park, entgegnete sie mir und ich fragte mich, wie man denn auf die Idee kommen kann, eine weitläufige Grünanlage, die die Nutzungsberechtigten bereits im Namen benennt (VOLKSpark), ernsthaft als sein Eigen zu bezeichnen. Mit einem Überschuss an Kurzsichtigkeit scheint das ein Leichtes zu sein. Nur noch Ausländer seien da, sagte sie und dass man sich da ja gar nicht mehr hin trauen könne. Nachts schon mal gleich gar nicht, fügte sie hinzu und ich fragte zurück, was sie denn nachts im Park wolle. Das Paradies des Konjunktivs. Nichts natürlich, aber selbst wenn man wollte, könnte man eben nicht.

Und dann diese ganzen Verschleierten. Da wisse man ja gar nicht, wen man vor sich habe. Hand aufs Herz, erwiderte ich: Das weiß man bei den Unverschleierten auch nicht, schon gleich gar nicht beim kommunikationslosen Vorüberspazieren. Das perlte an ihr ab wie warmer Urin an einer Lotuskloschüssel.

 

Mein Fehler, war ich doch der Annahme gewesen, es handele sich um ein Gespräch bestehend aus These, Antithese und Synthese. Und dann würden die ja auch immer gleich ihre ganze Familie und ihren kompletten Hausrat mitbringen. Das sei bei denen vielleicht so üblich, aber unserer Kultur entspräche das nicht. Vor die Wahl gestellt, meine Tage in hermetischer Sozialisolation in einem Fernsehsessel oder eben mit Freunden, Kindern, Eltern, Bekannten und Nachbarn im Park zu verbringen, würde ich mich ohne zu zögern für Letzteres entscheiden.

Außerdem, ereiferte sie sich, käme man sich im Volkspark ja mittlerweile vor wie auf dem Basar: Da würde ja niemand mehr deutsch sprechen, sondern alle nur noch muslimisch.

 

Jetzt musste ich doch ein bisschen lachen. Aber nur ein bisschen und nur ganz kurz, weil auch komplette Weltfremdheit Fremdenfeindlichkeit in keiner Weise rechtfertigt oder gar erträglich macht. Besorgnis und Blödheit fängt zwar beides mit B an, ist aber dennoch unter keinen Umständen zu verwechseln. Ich weiß ja, man muss die Sorgen der Bürger ernstnehmen, sonst wählen sie Trump, putzen viermal wöchentlich ihre Fenster, Häkeln Nierenwärmer für ihre Terrier, mischen Jägermeister mit Fanta oder legen sonstiges absonderliches kognitives Fehlverhalten an den Tag. Aber wie soll man jemanden ernstnehmen, der muslimisch für eine Sprache, Ramadan für eine Stadt und die Hijab für ein terroristisches Erkennungsmerkmal hält?

Moralische Bedenken gingen über meinen Gedanken nieder wie ein Hagelschauer über einem Spätsommerkornfeld. Man kann ja schlecht alte Frauen schlagen, aber zumindest geschüttelt hätte ich sie gerne, um den sich seit Jahren dort ansammelnden Kalk aus den Fugen ihres starren Weltbildes zu schütteln. Machte ich aber nicht.

Wenigstens würden die kein Schwein essen und keinen Alkohol trinken, fuhr sie unbeirrt mit ihrem Monolog fort, denn sonst würden die uns auch noch die Weinfeste wegnehmen. Aha, denke ich, Bratwurst und Wein also als letztes Bollwerk gegen die Islamisierung des Abendlandes.

Ausgrenzung kann so einfach sein. Nationalitätenübergreifende Geselligkeit aber auch, wenn man sich nur traut, dem Fremden mit Neugier statt mit Vorurteilen zu begegnen. Insofern: Syrer raus! Türken raus! Afghanen raus! Polen raus! Marokkaner raus! Engländer raus! Franzosen raus! Wiesbadener raus! Mainzer raus! Ab in den Volkspark mit euch. Wir sehen uns dort.

 



REISEN
Casablanca

Die Sache mit der Toilette

»Meeery? Mery! Ca va? Mery? Ne pleure pas!«

Ich beuge mich runter zu der Stelle, wo vor 20 Minuten noch ein Türschloss war, schaue durch das Loch und direkt in ein riesiges dunkles Auge, das mit viel Kajal umrandet ist und ebenso gut Jack Sparrow gehören könnte. Die dazugehörige Frauenstimme redet auf Französisch auf mich ein und ich kann nur erahnen, was sie sagt. Dass ich mich setzten soll, das sagt sie, und dass ich nicht weinen soll, das verstehe ich auch. Und dann vermutlich, dass sie mich retten kommen. Na ja, warum eigentlich nicht, denke ich und blinzele ein letztes Mal in ihr dunkelbraunes Auge. Mehr, als dass die Kloschüssel aus der Wand reißt, kann eigentlich nicht passieren. Also setze ich mich auf den runtergeklappten Toilettendeckel und harre der Dinge. Andere Menschen geraten in Schwierigkeiten, wenn sie Indien mit dem Fahrrad durchqueren, wenn sie sich auf eine Expedition durch den Urwald begeben oder dabei sind, das Denken auf den Kopf zu stellen. Ich gerate in Schwierigkeiten, wenn ich nur mal eben auf die Toilette gehen möchte.

 

Draußen wird derweil auf Arabisch wild durcheinander geredet. »Bye Meryam, bye«, dringt eine Stimme zu mir durch. »It was nice to meet you. I have to go. Good luck! Bye!« »Bye!«, rufe auch ich und denke daran, dass ich mit ihr das Haus verlassen wollte, um einen frühen Bus aus Casa zu bekommen. Es muss jetzt ungefähr 7.30 Uhr sein. Meine nackten Füße werden langsam kalt auf den Fliesen. Mein Schlafanzug müffelt nach 10 Tagen aus dem Koffer leben.

 

Ich hatte mich extrem gefreut, nach Tagen endlich mal wieder ›richtig‹ zu duschen, wollte vorher aber noch eben schnell auf Toilette gehen und schon war es geschehen, schon war der ganze Tag gelaufen. Die Toilettentür ließ sich nicht mehr öffnen. Die Toilette befand sich in einem winzigen, abschließbaren Separee im Badezimmer – das ich ganz deutsch hinter mir verschlossen hatte. Und nun klemmte das Schloss. Ich hatte die Tür angehoben, nach unten gedrückt, mich dagegen geworfen, an ihr gezogen und dabei jeweils versucht, die Verriegelung auf zu bekommen. Aber da hatte sich nichts bewegt. Ich hatte kurz überlegt, mich auf den Boden zu setzen und zu weinen, dann aber beschlossen, dass das der Lösung des Problems wenig zuträglich sei und stattdessen ein bisschen hysterisch gelacht. Dann hatte ich mir nochmals an der Tür zu schaffen gemacht. Ergebnislos. Die beiden Fenster gecheckt, von dem eines so groß war, dass gegebenenfalls mein Arm durchgepasst hätte und das andere gusseisern vergittert. Ich hatte gegen die Tür getreten. Mich auf den Boden gesetzt und schließlich ein bisschen »M’aidez!« vor mich hin gerufen – erfolglos. Es hatte bestimmt eine Viertelstunde gedauert, bis die Tochter des Hauses ins Bad kam – die Badezimmertür hatte ich zum Glück nicht hinter mir verschlossen – um mich zu fragen, ob alles in Ordnung sei. »Je ne peut pas ouvrir la porte«, sagte ich und hoffte, dass das ein einigermaßen verständlicher französischer Satz sei. Zur Untermalung meiner Tragödie rüttelte ich an der Tür. Sie entgegnete so was wie »Pas de problème! Un Moment!« und kam mit ihrem Vater zurück. Ich dachte, er hätte gesagt, man könne die Tür auch von außen öffnen. Er dachte vermutlich dasselbe, denn er hantierte am Schloss rum und der goldene Drehknopf bewegte sich. Ein Schloss, das man von innen und außen gleichermaßen öffnen kann? Wie bescheuert ist das denn?, dachte ich erst und dann: Nicht alles, was nach einer völlig bescheuerten Idee aussieht, ist auch eine.

 

Aber so viel der Vater auch drehte und drückte, rüttelte und zog: Die Tür wollte einfach nicht aufgehen. Mittlerweile hatte sich die komplette Familie vor der Tür versammelt und redete – weiß der Kuckuck was. Schließlich rief die Mutter etwas, das so klang wie: »Warte, gleich bist du draußen!« und mit einem Mal tat es einen Schlag, dass ich zusammenzuckte. Der Vater begann, den Zylinder aus der Tür zu schlagen. Klingt einfach, ist aber eine irre anstrengende Sache. Und dauert vor allem ewig. Und macht einen Höllenlärm! Der Putz rieselte aus dem Türrahmen und ich dachte schon, bevor der Zylinder raus ist, reißt einfach der komplette Türrahmen aus der Wand.

 

Nun, aber auch diese Viertelstunde verstrich und ich lachte erleichtert auf, als der metallene Zylinder klirrend neben der Toilettenschlüssel zu Boden ging. Dann musste ja jetzt nur noch der Verschlussbolzen nach oben gedrückt und rausgezogen werden … Das war der Moment, in dem ich begriff, dass man nichts und niemanden nach seinem Aussehen bewerten sollte. Hatte die Tür den Anschein gemacht, sie fiele schon aus den Angeln, wenn man sie anniese, erwies sie sich als eine wahre Hochsicherheitstür. Der Bolzen war beim besten Willen nicht aus der Falle zu bewegen.

 

Von dem Sohn habe ich nun schon länger nichts mehr gehört. Auch der Vater ist verschwunden. Nur die Mutter sitzt noch vor der Tür, guckt durch das Loch, redet auf mich ein und singt manchmal. Ich mag sie. Auch wenn sie wie Jack Sparrow aussieht. Vielleicht auch gerade deswegen.

 

Plötzlich redet sie eindringlich auf Französisch auf mich ein. Ich habe keinen blassen Schimmer, was sie mir sagen will. Aber draußen vor der Tür heult etwas auf, das wie eine Säge klingt und ich verstehe von alleine, dass ich von der Tür weggehen soll. Es fängt furchtbar an zu stinken, durch die Ritze in der Tür kommt dichter Qualm zu mir rein und es fliegen jede Menge Funken. Zu diesem Morgen würde passen, wenn die Tür gleich in Flammen stünde, sich aber nach wie vor nicht öffnen ließe. Es dauert eine ohrenbetäubende Ewigkeit, bis der Bolzen durchgeflext ist und die Tür endlich aufspringt. Davor steht der schweißgebadete Familienvater, dem die Erleichterung ins Gesicht geschrieben ist. Die Mutter klatscht in die in Hände und ruft lauftstark »Meeeeery!«, bevor sie mir um den Hals fällt. Ich entschuldige mich fortwährend für die Unannehmlichkeiten, die kaputte Tür und überhaupt für alles und beschließe, heute doch nicht zu duschen, werde aber bereits von der Mutter bestimmt in die Duschkabine geschoben, die sich ebenfalls in einem abschließbaren Separee befindet. Kopfschüttelnd ziehe ich mich aus. Draußen riecht es nach frischen Kaffee. Die Tür lasse ich offen.

 

LEBEN

Silvesternacht in Köln

 

 

 

MANN, mach doch mal einer das Licht an! Wenn alles komplett schwarz oder komplett weiß ist, kann man naturgemäß nichts erkennen. Ich kann das echt nicht mehr hören, dass grenzüberschreitende, übergriffige Sexualität eine Art religiöses Missverständnis oder sogar eine genetische Disposition bestimmter Nationalitäten sein soll. Und bevor jemand auch nur anfängt darüber nachzudenken mich misszuverstehen: Ich habe nicht vor zu behaupten, dass man in muslimisch geprägten Gesellschaften seine Hausaufgaben in Dingen Gleichberechtigung gemacht hat. Aber wenn zum Beispiel Jens Spahn (CDU) behauptet, es sei unmöglich, in einer Stadt wie Marrakech alleine als Frau über einen Platz zu gehen, dann irrt er nicht nur unglaublich, sondern dann frage ich mich ernsthaft, was jemand damit bewirken will, den Eindruck zu erwecken, in Marrakech sei jeden Tag Silvesternachts-Köln. Wem hilft dieses Schreckgespenst?
Damit will ich niemanden verteidigen. Es gibt keinerlei EntSchuldigung oder Rechtfertigung dafür, gegen dessen Willen den Körper und die Würde eines anderen Menschen anzutasten. Keine schwere Kindheit, kein Trauma, keine Flucht, keine schlechte Bildung, kein Vollsuff. Nichts. Nichts rechtfertigt so etwas.
ABER: Wenn wir glauben, wir hätten unsere Hausaufgaben in Dingen Gleichberechtigung gemacht, dann muss ich mal trocken hüsteln. (Auch das dient nicht der Relativierung; sexuelle Übergriffe werden nicht harmloser, nur weil sie normaler sind, als wir uns gerade in unserer Saubermann-Attitüde eingestehen wollen.) Ich schlage folgendes Experiment vor: Man gehe doch mal – oder besser Frau – in eine x-beliebige feiernde Menschenmenge (Bar, Club, Straßenfastnacht, Festival, …) und führe eine Strichliste über Machosprüche und nicht nachgefragte Befummelungen (die da mit einer Selbstverständlichkeit daherkommen, die einen manchmal wirklich schlucken lässt). So manch einer würde staunen. Und dabei handelt es sich bei den ›Tätern‹ weder um ›Flüchtlinge‹ noch um ›Bildungsferne‹. Aber eigentlich braucht man nicht mal betrunkene Feierszenen – um handfeste Diskriminierungen beobachten zu können langt ja meist der Gang ins Büro. Da findet sich gerne mal eine Art der Erniedrigung, die so scheiße normal ist, dass sie uns oft gar nicht auffällt.
Letzte Woche haben ›Flüchtlinge‹ am Mainzer Bahnhof Blumen an Frauen verteilt um sich zu entschuldigen für etwas, was sie nicht getan haben, um Respekt zu zeigen, um Brücken zu schlagen, um Zeichen zu setzen, um Mitgefühl auszusprechen, um Hände zu reichen.


Marrakech wird unter der Hand gerne als der Puff Europas bezeichnet. Und das nicht nur, weil dort exotische Frauen für kleines Geld zu haben sind, nein, vor allem für seine kleinen Jungs ist (nicht nur) diese Stadt bekannt. Nun kamen ›die Marokkaner‹ aber zum Glück nicht auf die Idee, alle Deutschen wie menschenverachtende Päderasten zu behandeln, die wie selbstverständlich ein bisschen Geld auf den Teetisch legen, um Kinderseelen für immer zu brechen. Ich hätte aber auch noch nicht davon gehört, dass sich deutsche Touristen auf dem Djemaa el Fna versammelt hätten, um sich bei kleinen marokkanischen Jungs zu entschuldigen und Blumen zu verschenken.

 

 

Was will sie denn jetzt eigentlich mit ihrem aufgebrachten Gezeter?
Ich glaube sie will, dass wir mal eben das Licht anmachen, alle unsere Waffen runternehmen, uns mal kurz setzen und die Klappe halten. Und dass wir dann in aller Ruhe noch mal ganz von vorne anfangen über die Rolle der Frau, die Rolle des Mannes und die Würde des Menschen zu reden und uns für den Anfang vielleicht zumindest darauf verständigen können, dass das Erkennungsmerkmal von Arschlöchern deren Taten und nicht deren Personalausweise sind.

 

Januar 2016

 



REISEN
Zwischen Nador und Casablanca

Die Coffeintabletten

 

Der Blick auf die Uhr verriet, dass es schon elf war, demnach konnte es ja nicht mehr so weit bis Casablanca sein. Dulamah sagte irgendwas, ich glaubte das Wort »taban« verstanden zu haben und ließ verlautbaren, dass ich Coffeintabletten dabei hätte und eine Runde schmeißen würde. Wassim übersetzte und Dulamah fand das hervorragend.

»Hab ich aber im Kofferraum.«

»Na gut, er fährt bei der Nächsten raus.«

Die nächste war etwa eine halbe Stunde entfernt und eine Tankstelle. Ich kramte das Plastiktütchen mit den wenigen Kosmetika, Medikamenten und Flüssigkeiten aus dem im Kofferraum liegenden Koffer und stieg wieder vorne ein. Ob ich auch Becher und Zucker dabei hätte, wurde ich gefragt. Was die beiden mit Bechern und Zucker wollen, fragte ich zurück, die brauche man nicht für Coffeintabletten, die könne man einfach schlucken. Kurze grübelnde Stille setzte ein, beide Seiten versuchten zu verstehen, wovon die andere redete. Schließlich hob ich meine Coffeintabletten in die Luft und wedelte damit herum. Von einer auf die andere Sekunde brach lauthalses arabisches Geschimpfe über mich herein. Dulamah zeigte auf die Tabletten, redete auf seinen Bruder ein, der sagte, dass sie keine Tabletten nehmen und dass das verboten sei im Islam, nicht gut für den Körper, der Bruder hörte gar nicht mehr auf zu reden, warum ich so was mit nach Marokko bringen würde, übersetzte Wassim, dass das wach hält, versuchte ich zu beschwichtigen, was alles nur noch schlimmer machte und langsam wurde mir klar, dass die beiden meinten, dass ich so was wie in Tablettenform gepresstes Speed schachtelweise mit mir führe. »Quahwa! Quahwa ma Coffein! C’est seulement comme beaucoup de Caffee!«, wiederholte ich jetzt mantrahaft und tippte unaufhörlich mit meinem Zeigefinger auf die Aufschrift: Coffeinum N 0,2 g Merck dura GmbH. »Das ist nur wie viel Kaffee, viel, viel Kaffee, Coffein, was auch in Kaffee ist, sag das deinem Bruder!«

 

Wassim schaffte es tatsächlich den Wortschwall des Bruders zu unterbrechen und zu übersetzen. Endlich setzte wieder Stille ein. »Das sind keine Drogen. Das ist wie Kaffee. Nur in Tablettenform.« Beide schauten nach vorne aus der Windschutzscheibe und schienen nachzudenken. Wie lange das wach hält, wollte Dulamah schließlich wissen. Er solle nur eine halbe nehmen, sagte ich, dann rette ihn das über die nächsten vier bis sechs Stunden, hatte aber ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer, ob das stimmte. Nicht dass er dann die nächsten vier Tage wach sei, gab er zu bedenken. Zumindest das konnte ich mit Sicherheit verneinen. Die beiden unterhielten sich noch kurz, schnell und leise, dann wollte Wassim wissen, ob wir Deutschen wirklich Kaffee in Tablettenform machen. Ich hielt ihm die Packung hin, er übersetzte seinem Bruder. Beide fingen an zu lachen. Erst gluckste es nur leise, von Kopfschütteln begleitet, aus ihnen heraus, bis sie lauthals lachend mit den Köpfen auf Lenkrad und Armaturenbrett lagen und sich Tränen aus den Augen wischten. Ich kam mir ein bisschen verarscht vor, war aber trotzdem heilfroh, dass diese Kuh vom Eis war. Dulamah stieg aus, ging in die Tankstelle und kam wenige Minuten später mit drei kleinen Bechern Espresso zurück. Er drückte mir einen in die Hand und lachte versöhnlich. »Madame, ishrab! Moroccan Way of Coffee«, sagt er und ich brachte nur ein erleichtertes »Shukran!« über die Lippen. Hatte mich kurzzeitig schon mit meinem Koffer an einer Tankstelle im Nirgendwo Marokkos ausgesetzt gesehen. Wir schlürften unseren Kaffee, der so süß war, dass sich mir der Magen umdrehte und Wassim sagte lachend: »Das kann auch nur Deutschen einfallen! Kaffee in Tablettenform. Ihr spinnt doch! Alles immer schnell, schnell. Kaffee – muss man genießen.« Ich stimmte etwas gequält lachend zu. Schließlich ließ Dulamah den Motor wieder an und wir fuhren endlich weiter.

 

LEBEN 

Die Weisenau-Dialoge
De Obdigger

Bisschen spät war’s mal wieder, als ich schnell aber leise die Treppe nach unten schlich, um nicht in die Fänge meiner Nachbarin zu fallen. Aber als sei das irgendwie aneinander gekoppelt, spang ihre Tür auf, als ich meine nahezu lautlos schloss. Wie schafft es ein so überschaubares Bisschen Mensch eigentlich, jedes Mal den kompletten Flur zu versperren und dabei diese »DU KOMMST HIER NICHT VORBEI!«-Aura zu verbreiten, dachte ich seufzend und sagte höflich: »Hallo Frau L., schönen Tag, ich hab’s eilig, muss zur Arbeit, bin bisschen spät dran.« Ich Narr. »Frau Spies –«, hob sie theatralisch an und sah dabei aus wie die Fehlinterpretation einer Yoga-Übung, Blick, Kopf und Schultern übertrieben gen Boden gerichtet. »Jetzt hörn Sie mir mal gut zu, Sie alte Schachtel, erzählen Sie’s Ihrem Hund, Ihrem Mann oder irgendeiner anderen alten Schachtel im REWE – ABER NICHT MIR!«, wollte ich sagen, sagte stattdessen aber: »Frau L., was ist denn los?« Ich bildete mir ein, ein kleines triumphierendes Lächeln über ihr Gesicht huschen zu sehen. »Wissense, ich hatt doch als die Probleme mit derer Brill.« Ich sollte mir dringend angewöhnen, das Treppenhaus zu meiden und die Wohnung künftig durch das Fenster zu verlassen. »Ich konnt die butze, so viel ich wollt, die war als verschmierd. Wie Nebel, kennese sich des vorstelle? So ganz diesisch. Glabenses, ich hunn die net sauber kriet. Des war als wie …« »Ich muss wirklich dringend zur Arbeit, Frau L.«, versuchte ich sie zu unterbrechen, was sie aber nicht weiter beeindruckte. »Jetzt hunn ich heit gedacht, ich geh mol zum Optigger und bring die dem serick. Des kann jo net sein, das so e Brill andauernd verschmiert is. Die hot jo aach Geld gekoscht.« »Das is doch super«, hörte ich mich sagen, während ich über den perfekten Mord nachdachte. »Wissense, was der gesaat hot?« Irre, das hält man doch im Kopf nicht aus. Jetzt wartete die ernsthaft auf eine Antwort. Ahnend, dass sie den längeren Atem haben würde, sagte ich also endlich: »Nein, Frau L., ich weiß nicht, was er gesagt hat.« »Ich bin do hie un hab dem die Brill gezeicht. Hab dem des gesaat, das die als schmiert. Wissensse, des is wie als wenn alsfort Nebbel wär. Kennense sich des vorstelle?« Ich hätte gerne ein bisschen geweint. »Ja, kann ich mir vorstellen, aber ich muss jetzt trotzdem zur Arbeit.« Da sie gar nicht erst darauf einging, was ich sagte, wuchs in mir der Gedanke, einfach über das Treppengeländer an ihr vorbeizuklettern. Das Ende der Story konnte ich mir dann heute Abend anhören, wenn ich von der Arbeit zurückkäme. Vermutlich würde sie dann immer noch genau hier stehen und wäre immer noch mit der Schilderung ihres Nebels beschäftigt. »Der Optigger hot sich die Bill aageguckt und weil mit derer Brill alles in Odnung war, hot er gemaant, mer gucke uns mol die Aa a. Un dodebei is rauskumm, dass ich Graue Star hun. Die Brill war gar net verschmierd.« Ich gab mir allergrößte Mühe, ernst drein zu blicken und nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. »Uff dem enne Aa seh ich noch fettzich Prozent un uff dem annere sibzisch. Des wedd jetz obberiert. Is des ned schlimm, Frau Spies?« »Is doch super, dann sehen Sie danach wieder was!«, sagte ich und verstand auf einmal viel besser, wie es zu den ganzen Beulen in ihrem Auto kam. Ein einziges Wunder, dass die noch niemanden umgenietet hatte. Selbst mit 3 Promille fährt man vermutlich sicherer als mit einer Sehleistung von 40 und 70 Prozent. »Saanse mol, wollden Sie ned uff die Abbeit?« »Oh ja, hatte ich beinahe vergessen«, sagte ich mit leicht entnervtem Ton. »Dann schönen Tag Ihnen noch, Frau L.!« Endlich ließ sie mich an sich vorbei. Ich eilte die Treppe runter. »Wissense, leicht isses ned«, hörte ich sie noch sagen, aber da fiel die Haustür hinter mir schon ins Schloss.